Montag, 11. Januar 2016


2.12.15
Am Kottbusser Tor
Kurz vor zwölf nachts, an einem Mittwoch. Raus aus der U1, die ewig dreckige Rolltreppe runter zur U8. Leute hetzen, sind gehetzt oder genervt oder beides. Schnell noch die letzten U-Bahnen kriegen. Besoffene Hipster, verzweifeltes Partyvolk.
Plötzlich gibt es Musik. Sie schallt von unten die Rolltreppe rauf, kommt überraschend, direkt aus dem Innern der U-Bahnstation. Als ich unten im Zwischengeschoss angekommen bin, sehe ich einen dicken, kurzsichtigen Typen mit starker Brille und schwarzem T-Shirt und einen E-Bass-Spieler mit Bart, der einige Akkorde zupft. Der Dicke rappt: “Du bist nicht allein…. Hab keine Angst… Du bist das Wunder… Gott ist ein Teil von Dir...” Verblüfft bleibe ich stehen und sehe den beiden zu. Der seltsame Rapper sieht wie ein verträumter Virtuose aus, spaziert entrückt auf und ab, vollführt eine Art Tanz, mit den Augen nach oben gerichtet. Der E-Bass-Spieler hat seine Augen geschlossen und zupft. Einige andere Passanten bleiben ebenfalls stehen, hören zu. Kurzes Bass-Solo. Ein Typ geht auf den Dicken zu und reicht ihm eine Zigarette, die dieser zunächst ablehnt, dann nimmt er doch einen Zug. Ein Liebespaar bleibt stehen und beginnt zu knutschen. Ich gehe weiter, höre wieder die Stimme des Dicken, jetzt nur noch undeutlich bis zum Bahnsteig. Plötzlich breitet sich eine eigenartige Ruhe aus. Berlin-Moment.

Montag, 26. Oktober 2015


21.10.15 (1)
Ich steige aus der U-Bahn an der Mohrenstraße, die Treppen rauf am Eingang streckt mir ein preussischer Feldmarschall seinen bronzenen Arsch entgegen. Teil eines erstarrten Balletts rund um den Zietenplatz, bestehend aus lauter preussischen Feldmarschallen und Generälen. Dazwischen einige verblühte Rosenbeete. Ich gehe ein Bisschen umher, setze mich auf eine der Bänke, lese die Infotafel für Touristen. Dann blicke ich die Seitenstraße herunter, stehe auf und gehe geradeaus. Rechter Hand stoße ich auf das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ehemals Reichspropagandaministerium, Nahles sitzt nun also bei Goebbels. Ich kratze mich am Hinterkopf. Über dem Eingang ein großes Plakat, das zu einer Ausstellung einlädt: deutsche Sozialgeschichte von Anfang bis heute. “Da gehe ich doch rein!” denke ich mir und steuere stracks auf den Türsteher zu. Er schwenkt gelangweilt seine Ausweiskarte am Bändel. “Entschuldigen Sie, kann ich in diese Ausstellung rein?” Er freut sich, dass überhaupt mal jemand hier vorbeikommt und strahlt mir entgegen: “Aber natürlich!” Der Türsummer summt und ich bin drin, im Reichspropagandaministerium, hübsch renoviert, der überdachte Innenhof sieht noch immer etwas nach alten Kadern aus.
In der Ausstellung bin ich allein. Keine einzige Sterbensseele außer mir. Sie besteht auch nur aus aufgestellten Infotafeln, im Kreis gruppiert und ist langweilig. Eigentlich hätte ich gerne das Ministerium von innen gesehen, aber die anderen Türen sind für Besucher geschlossen. Nach einigen Pflichtminuten im Ausstellungsraum, gehe ich wieder. Es warten noch andere interessante Gebäude in unmittelbarer Umgebung auf mich...

Freitag, 26. Juni 2015


13.5.15 (3)
Am Maybachufer. Ich gehe ein gutes Stück am Kanal entlang. Von der anderen Seite höre ich laute Stimmen, die auf sich aufmerksam machen wollen. Eigentlich ist es zu kalt für Feiern im Freien und jeden Moment könnte es regnen, denn der Wind ist frisch. Doch die nächtlichen Feierer machen Propaganda für sich selbst. Sie wollen allen beweisen, dass sie Spaß haben. Wer glaubt ihnen das?
Ich erreiche das Areal um die Weserstraße, bewege mich durch die Ströme der Vergnügungssüchtigen, die wie in einem Freizeitpark die Attraktionen suchen, oder sich rauchend in den Schaufenstern der namenlosen Szenecafés und -kneipen selbst ausstellen. Auf der rechten Straßenseite parkt ein Transporter mit einer Aufschrift, die vermutlich ein Werbeslogan oder vielleicht der Titel einer Fernsehserie ist und, wie mir scheint, die Frage des Abends aufwirft: “Könnt ihr entkommen?” Ich bin müde und werfe einen letzten Blick in das letzte Schaufenster der letzten Kneipe an der letzten Ecke und biege links ab. Ab nach Hause.
Kurz vor meiner Haustür begegnet mir der Dandy wieder, diesmal allein und ohne Bierflasche, er biegt um die Ecke und ich schaue ihm kurz nach, sehe, dass er im Haus nebenan wohnt. Wir sind also Nachbarn.

Mittwoch, 3. Juni 2015


13.5.15 (2)
Hermannplatz. Ich steige aus. Es ist erstaunlich zu sehen, wie er sich von einem Drogenplatz langsam zu einem Jugendtreffpunkt mausert. Oder sich einfach alles durchmischt. Vielleicht kann ich die Junkies nicht mehr von den Studenten unterscheiden. Den Dandy habe ich aus den Augen verloren. Ist er noch in der U-Bahn? Ich drehe mich kurz um die eigene Achse und gehe in Richtung Kottbusser Damm, viele Bierflaschen und Bärte kommen mir hier entgegen. Dazwischen immer wieder toupierte, blondierte Haare und schwarze, blickdickte Strumpfhosen, die in hellbraunen, dünnen Lederschuhen mit Reißverschluss stecken. Ein hektischer Mann ohne Jacke, in weinrotem Pullover und kariertem Hemdkragen geht aufgeregt die Straße auf und ab, überholt mich zweimal, bleibt stehen, raucht nervös den Zigarettenstummel, den er zwischen den Fingern hält und redet dabei mit sich selbst. “Man stelle sich das vor… Man stelle sich das vor...” sagt er immer wieder vor sich hin.

Montag, 18. Mai 2015


13.5.15
Am U-Bahnsteig Boddinstraße begegnet mir der Dandy. Ich nenne ihn so, weil er aussieht, wie aus einem der großformatigen Schwarzweißbilder entsprungen, die seit Renovierung der Station vor einigen Monaten an den Haltestellenwänden hängen und Neuköllner Straßenszenen der 20er und 30er Jahre zeigen. Er trägt weite Hosen, beige, mit Buntfalte, Schiebermütze, hochgekrempeltes, ockerfarbenes Hemd, Weste darüber, aber lose, nicht zugeknöpft. Im Winter habe ich ihn auch schon manchmal gesehen, den Dandy, da trug er Mantel und Hut, dazu immer korrekt gewichste und gebürstete Schuhe, er kam in dieser Aufmachung unter meinem Fenster vorbei oder mir auf der Straße entgegen. 
Heute ist er mit seiner Freundin unterwegs, hält eine Bierflasche in seiner rechten Hand. Und er spricht deutsch, was mich überrascht, bisher hatte ich ihn immer für einen Engländer gehalten. Seine Augen sind hellblau und glasig, sein Gesichtsausdruck melancholisch bis traurig, abwesend, er schaut sich um, als suche er etwas, vielleicht etwas, das er vor langer Zeit verloren hat. Er steigt in die Bahn, die eben eingefahren ist, seine Geliebte an der Hand. 
Ich steige ebenfalls ein, fahre aber nur eine Station.

Sonntag, 3. Mai 2015


2.5.15
Ich rolle wieder ein in Berlin. Die Stadt zeigt mir ihre Lichter und ihre Weitläufigkeit und es ist ruhig. Verblüffend ruhig. Ich fühle mich an mein erstes Mal erinnert, mein erstes Mal mit Berlin: Teenager aus der Provinz trifft Diva, die Königin der Nacht und ist hingerissen von ihrem Abendkleid und ihrer Schminke. (Das Deo hat sie vergessen, aber sie trägt ein starkes Parfum.) So hingerissen ist er, dass ihm der Mund offenstehen bleibt. Über die Jahre hat er sie besser kennengelernt, ihre verkaterte Visage am Morgen und ihr zerrupftes Haar, die Löcher in ihren Strümpfen und die abgelatschten Absätze an ihren hohen Schuhen.
Doch sie hat ihn immernoch, ihren nächtlichen Glanz, sie kann es immernoch: Berlin, Königin der Nacht. Sie ist noch immer eine nächtliche Verführerin. Auch wenn sie jetzt tagsüber putzen geht. Manchmal. Aber Gottseidank ist morgen Sonntag.

Dienstag, 24. Februar 2015


22.2.15
Am Herrfurthplatz
In einem Neuköllner Café mit Hipstern, neben mir drei Hipsterfamilien mit zwei verschiedenen Kindern. Erst reden sie über Tennis und Investoren, es klingt, als ob sie Drehbuchphrasen einer Daily Soap aufsagen, dann verschiebt sich das Gespräch hin zu Oliven und Jogginganzügen.
Drei Kellnerinnen arbeiten hinter dem Tresen, alle drei mit kurzen Ärmeln und freien Achseln, die eine legt romantische Fingerpicking-Musik auf. Ich fühle mich plötzlich wie in einem Kinderzimmer, ein Laptophipster lehnt sich an die Scheibe und schwingt im Rhythmus der Musik leicht mit. Jetzt kommen die Kinder zu Wort, sie sind sehr sympathisch und wirken aufgeräumt, garnicht hipstermäßig, es ist fast, als würden sie ihren Eltern die Welt erklären.