22.7.10
Ich habe
mich dran gehalten: Im Sommer ziehe ich hierher und so kommt es dann
auch. Gestern noch ein Häufchen Elend, heute schon auf der
Berlin-Welle reiten. Es ist so viel Platz hier und es scheint, als ob
die Zeit hier langsamer verginge als anderswo. Überall Straßencafés,
Straßenrestaurants und Straßendöner. Alles fühlt sich leicht und
entspannt an. Den Tag über ist es heiß, eine harte Hitze, abends
beginnt es zu regnen.
Bevor ich
die U-Bahnhaltestelle Bernauer Straße erreiche, kommt mir eine
Anfangzwanzigjährige mit kurzen blauen Shorts, Hochsteckfrisur und
Plastiksonnenbrille entgegen. Sie bemerkt meinen Blick und wendet
sich nach links, um ihr Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe zu
betrachten, dabei fährt sie sich mit der linken Hand durchs Haar.
Die U-Bahn
ist voll, voll mit nackten Beinen, Rucksack- und Sandalenträgern. Es
herrscht Schweigen, ein Schweigen, das dick wie Watte ist. Die
meisten verstecken ihre Gesichter hinter diesem Schweigen: Intimität
vermeiden, nicht aufgeschreckt werden. Nur selten riskieren sie einen
Blick in den Mittelgang. Eine rothaarige Frau mit Kurzhaarschnitt und
schwarzrandiger Hornbrille packt ihre Brust aus und stillt einen
Jungen, der bereits weit über das Stillalter hinaus ist. Für einen
Moment bin ich irritiert.
Am
Alexanderplatz drückt
die Mehrheit der Fahrgäste aus den sich öffnenden Türen, die
Nachdrängenden besetzen die Plätze. Ihre Rucksäcke, Sandalen,
Röcke und Shorts sind grauer und etwas ranziger. Am Kottbusser Tor
steigt ein Schnorrer mit Baseballcap, Parka und Vollbart ein und sagt
ein Gedicht auf, das von Engelein handelt. Ich erinnere mich, dass er
mir heute Mittag bereits auf der Hinfahrt begegnet ist. Sein Auftritt
ist gut einstudiert, er ist ein exzellenter Entertainer und
reflexhaft möchte ich ihm etwas geben, lasse es dann aber doch sein,
zwinge mich, es sein zu lassen und habe dabei ein sehr schlechtes
Gewissen.
Als der
Schnorrer eine weiter aussteigt, sehe ich drei Malocher an der Tür
stehen. Mir fallen sie erst jetzt auf, ich weiß nicht, ob sie gerade
erst zugestiegen sind, oder ob sie schon die ganze Zeit dort standen.
Sie unterhalten sich, vertraut, obwohl ich glaube, dass sie sich
nicht kennen. Ein merkwürdiges Bild: fremde Leute, die sich
unterhalten, vielleicht nur für einen Moment, weil sie gerade ein
kurzes gemeinsames Schicksal teilen.
Die
Kippfenster der U-Bahnwaggons sind alle geöffnet und es weht eine
starke Brise durch den Zug, die angenehm kühl ist. Einer Muslima
flattert der lange Kopftuchschleier um die Schultern, fast wie eine
Wetterfahne.
Ich steige
aus. Die Schrift, welche die Haltestelle markiert, ist hier versifft,
alle Werbeflächen sind leer, unvermietet. Willkommen in Neukölln.