Mittwoch, 27. Februar 2013

22.7.10
Ich habe mich dran gehalten: Im Sommer ziehe ich hierher und so kommt es dann auch. Gestern noch ein Häufchen Elend, heute schon auf der Berlin-Welle reiten. Es ist so viel Platz hier und es scheint, als ob die Zeit hier langsamer verginge als anderswo. Überall Straßencafés, Straßenrestaurants und Straßendöner. Alles fühlt sich leicht und entspannt an. Den Tag über ist es heiß, eine harte Hitze, abends beginnt es zu regnen.
Bevor ich die U-Bahnhaltestelle Bernauer Straße erreiche, kommt mir eine Anfangzwanzigjährige mit kurzen blauen Shorts, Hochsteckfrisur und Plastiksonnenbrille entgegen. Sie bemerkt meinen Blick und wendet sich nach links, um ihr Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe zu betrachten, dabei fährt sie sich mit der linken Hand durchs Haar.
Die U-Bahn ist voll, voll mit nackten Beinen, Rucksack- und Sandalenträgern. Es herrscht Schweigen, ein Schweigen, das dick wie Watte ist. Die meisten verstecken ihre Gesichter hinter diesem Schweigen: Intimität vermeiden, nicht aufgeschreckt werden. Nur selten riskieren sie einen Blick in den Mittelgang. Eine rothaarige Frau mit Kurzhaarschnitt und schwarzrandiger Hornbrille packt ihre Brust aus und stillt einen Jungen, der bereits weit über das Stillalter hinaus ist. Für einen Moment bin ich irritiert.
Am Alexanderplatz drückt die Mehrheit der Fahrgäste aus den sich öffnenden Türen, die Nachdrängenden besetzen die Plätze. Ihre Rucksäcke, Sandalen, Röcke und Shorts sind grauer und etwas ranziger. Am Kottbusser Tor steigt ein Schnorrer mit Baseballcap, Parka und Vollbart ein und sagt ein Gedicht auf, das von Engelein handelt. Ich erinnere mich, dass er mir heute Mittag bereits auf der Hinfahrt begegnet ist. Sein Auftritt ist gut einstudiert, er ist ein exzellenter Entertainer und reflexhaft möchte ich ihm etwas geben, lasse es dann aber doch sein, zwinge mich, es sein zu lassen und habe dabei ein sehr schlechtes Gewissen. 
Als der Schnorrer eine weiter aussteigt, sehe ich drei Malocher an der Tür stehen. Mir fallen sie erst jetzt auf, ich weiß nicht, ob sie gerade erst zugestiegen sind, oder ob sie schon die ganze Zeit dort standen. Sie unterhalten sich, vertraut, obwohl ich glaube, dass sie sich nicht kennen. Ein merkwürdiges Bild: fremde Leute, die sich unterhalten, vielleicht nur für einen Moment, weil sie gerade ein kurzes gemeinsames Schicksal teilen.
Die Kippfenster der U-Bahnwaggons sind alle geöffnet und es weht eine starke Brise durch den Zug, die angenehm kühl ist. Einer Muslima flattert der lange Kopftuchschleier um die Schultern, fast wie eine Wetterfahne.
Ich steige aus. Die Schrift, welche die Haltestelle markiert, ist hier versifft, alle Werbeflächen sind leer, unvermietet. Willkommen in Neukölln.



Dienstag, 26. Februar 2013


25.2.13
Ich bin auf der Suche nach Berlins Geheimnis. Schon seit zweieinhalb Jahren. Eigentlich sogar noch länger, seit ich Berlin zum ersten Mal sah: den Bahnhof Zoo, den Kudamm, eine unbeschreibliche Lichter- und Menschenmenge. Das war 1996.
Was ist Berlins Geheimnis? Manchmal erscheint es mir, plötzlich und unverhofft: auf Plätzen, an Ecken, am Abend, in der U-Bahn, nachts wenn die Fenster glühen, an Sommertagen, wenn das waagrechte Licht auf die Stadt fällt, wenn der Himmel weit und wolkenlos ist, in Gesichtern, einer Menschenmenge, einem Geruch. Oft finde ich es nicht, wenn ich suche, und wenn ich nicht suche, ist es plötzlich da. Ich spüre die Schwingung der Stadt, ich fühle ihre Befindlichkeit, ihre Angst, ihre Hoffnung.
Was ist Berlins Geheimnis? Gibt es das überhaupt?