23.7.10
Es
hat sich festgeregnet und der Himmel ist grau, grau wie die
Karstadtfassade am Hermannplatz. Der Platz verbreitet eine ungute
Atmosphäre und das liegt nicht an den vielen zwielichtigen
Gestalten, sondern an den titanenhaften, unrenovierten Fassaden –
als hätten hier mal Riesen gewohnt, die jetzt ausgestorben sind.
Ich
gehe hinein in den Karstadtklotz, um einige Besorgungen zu machen. Am
Telekomstand steht einer, der mir irgendwie bekannt vorkommt.
„Komisch“, denke ich, „der Verkäufer hat die selben
Kotteletten wie Cem Özdemir“. Ich schaue ein zweites Mal hin: Es
ist Cem Özdemir. Ich erkenne ihn schließlich an seiner
langgestreckten Nase. Er schaut ernst und beiläufig, so als ginge
ihn das alles um ihn herum nichts an, aber gleichzeitig mit der
Gewissheit, bereits erkannt worden zu sein. Als ich von den
Besorgungen zurückkomme steht Özdemir noch immer da. Entweder
braucht er eine sehr aufwendige Beratung oder er möchte seinen
Wählern nahe sein.
Volkspark
Hasenheide – keine gute Idee hier durchzugehen, wie ich bald merke.
Überall in den Büschen lauern Dealer und Heroinabhängige,
Cracktypen und Schwerstalkoholiker. „He Alter, brauchst was?“
wird schon bald zu meiner täglichen Begleitmusik. Ich schaue auf
den Boden und orientiere mich auf die breiten, geteerten Wege. In
manchen Hecken stehen Sofas – Dealerbüro. Ein paar Meter weiter
eine Kita mit großem Spielplatz und Liegewiesen. Muttis schauen
ihren Kindern beim Schaukeln zu. Eine kuriose Koexistenz.
Die
geteerte Querstraße in der Mitte des Parks ist die magische Grenze,
dahinter ist der Spuk vorbei. Zwei studentische Bartträger spielen
Federball auf der Wiese, eine Joggerin in roter Hose müht sich einen
Kiesweg entlang.
Nachmittags
bin ich in einem sehr schlechten Asia-Imbiss, der zu allem Überfluss
auch noch teuer ist. Während ich braune Bratnudeln mit
Hähnchenfleisch in mich reinschiebe, lese ich die BZ und spekuliere
eigentlich auf ein Paar Bilder mit Titten, aber Fehlanzeige.
Überhaupt bin ich in den letzten Tagen das Vorbild für schlechte
Ernährung: nur auswärts gegessen, immer schön billig, teilweise
gut, teilweise mies und kein Obst, dafür leckere türkische
Pfannkuchen mit Spinat. Die Verkäuferin in der Bäckerei hat ein
schönes und offenes Gesicht, sie lächelt, sobald man ihr in die
Augen sieht, sie sagt "Mehraba" oder „Hallo", je
nachdem, wer gerade reinkommt. Zum Abschied sagt sie "Tschüsi",
das scheinen hier alle Verkäuferinnen zu sagen.
Berlin
ist Utopia und Apokalypse zugleich, das merke ich an einem Tag wie
heute, der wie ein Septembertag ist. Wenn die Sonne scheint, dann ist
es das Paradies und die Leute vergessen ihre Sorgen, Frauen zeigen
ihre schönen Schultern und Beine – und es gibt viele schöne
Schultern und Beine in Berlin. Wenn es aber wie heute regnet und kühl
ist, hängen die Köpfe und die Regencapes sind Schutzanzüge
gegen die enttäuschte Hoffnung.
Ich
fühle mich wie in einer surrealen Umgebung, in einer Zwischenwelt.
Ich weiß nicht, ob ich wirklich hier wohne, ob es diesen Ort
wirklich gibt. Vielleicht ist Berlin nur eine Erfindung, ein
Phantasiereich, das nur die sehen, die es sich ausdenken.